Risikokompetenz von Patienten - Hohe Anforderung an Arzt und Apotheker

Risikokompetenz bedeutet, in der Lage zu sein, in ungewissen Situationen die verschiedenen Optionen und ihre möglichen Folgen einzuschätzen und abzuwägen, um schließlich zum eigenen Nutzen eine Entscheidung treffen zu können. Dies betrifft den Gesundheitssektor in besonderem Maße und stellt hohe Anforderungen sowohl an Fachleute als auch an Laien.

Nichts in dieser Welt ist sicher, außer dem Tod und den Steuern, erkannte schon Benjamin Franklin. Wie wahr dieser Satz ist, hat die Welt im Jahr 2020 durch die Corona-Pandemie in aller Deutlichkeit erfahren. Neue Risiken sind aufgetaucht, neue Ängste und Unsicherheiten machen sich breit. Wie ist damit umzugehen? Risikokompetenz ist nicht systematisch erlernbar, sondern muss erst in der Lebenspraxis erworben werden. Sehr oft muss entschieden werden, ohne oder noch bevor alle möglichen Ereignisse und deren Wahrscheinlichkeiten bekannt sind, und bei vielen Fragen ist unklar, welches die Alternativen und deren Folgen sind.

In der Ökonomie wird zwischen „Risiko“ und „Unsicherheit“ differenziert. Bei einem Risiko sind die Wahrscheinlichkeiten bzw. die Häufigkeit eines gefürchteten Ereignisses bekannt. Bei unsicherer Datenlage ist jedoch unklar, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Ereignis eintritt oder wie oft das der Fall ist. Rechnen hilft hier nicht weiter. Der Risikoforscher Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding Centers für Risikokompetenz der Universität Potsdam, nennt die dann probate Strategie die „Suche nach intelligenten Heuristiken.“ Eine Heuristik strebt nach einer einfachen statt einer komplizierten Lösung und beschreibt die Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Rest zu ignorieren. Eine solche heuristische Vorgehensweise ist auch ein probater Weg für viele Überlegungen, die bei der Fürsorge für die eigene Gesundheit getroffen werden müssen. Nicht erst die jetzige Pandemie führt es vor Augen: In der Medizin müssen ständig Nutzen und Risiken gegeneinander abgewogen werden. Macht es Sinn, zur Früherkennung eines Prostatakarzinoms den Wert des Prostata-spezifischen Antigens (PSA) bestimmen zu lassen? Wie hoch ist die Chance, dass ein bestimmtes Medikament hilft, wie groß ist die Gefahr möglicher Nebenwirkungen? Für den Patienten ist die Abwägung von Nutzen und Risiken meist sehr schwierig. Mittlerweile suchen viele als erstes im Internet nach Informationen über ihre Beschwerden oder ihre Erkrankung. Danach sind sie jedoch eher verwirrt als gut informiert. Das zeigte auch eine Bertelsmann-Studie aus 2018: Knapp drei Viertel der befragten Ärzte gaben an, Patienten würden durch Internetinformationen nervöser und ängstlicher. Umgekehrt sahen nur wenige Mediziner, dass ihre Patienten durch ihr Surfen in der digitalen Welt sicherer wurden und die Aussagen von Fachleuten besser verstanden. Ohne einen „Lotsen“ gehen Verbraucher ebenso wie Patienten bei ihrer Suche nach validen Gesundheitsinformationen im Netz sehr oft unter. Viele suchen unspezifisch und landen so auf Seiten, die – oft interessengetrieben – nur einzelne Aspekte eines Themas beleuchten oder Einzelfälle schildern.

Zwar gibt es durchaus gute evidenzbasierte Gesundheitsinformationen für Patienten, beispielsweise vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG (https://www.gesundheitsinformation.de/)), die jedoch wenig bekannt sind. Auch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (https://www.awmf.org/awmf-online-das-portal-der-wissenschaftlichen-medizin/awmf-aktuell.html), das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) (https://www.aezq.de/) und die Stiftung Gesundheitswissen https://www.stiftunggesundheitswissen.de/) entwickeln verständliche Patientenleitlinien auf Basis der evidenzbasierten Medizin (EbM). Aktuell ging, initiiert vom Bundesministerium für Gesundheit, am 1. September 2020 das Gesundheitsportal www.gesund.bund.de online. Mit diesen Recherche-Tipps können Ärzte und Apotheker Patienten und interessierte Verbraucher bei der Suche nach validen Gesundheitsinformationen gut unterstützen.

 

Gastkommentar

Gesundheitserziehung: Breites Feld für Verbesserungen

Was mich immer wieder am KFN begeistert, ist, dass brennende Themen aufgegriffen werden, z.B. das Projekt „Stärkung der Risikokompetenz von Patienten: Eine interdisziplinäre Aufgabe“, veröffentlicht in GMS-2014-0037 (https://www.egms.de/dynamic/de/journals/ms/volume13.htm). Es wurde die Kommunikation zwischen Behandler und zu Behandelndem bearbeitet. Bis heute ist sie untrennbar mit der Entwicklung im Internet verbunden. Nach einer Umfrage rangieren Gesundheitsinformationen auf der Beliebtheitsskala an dritter Stelle hinter Online-Shopping und Nachrichten. 2019 hatten 73 Prozent der Befragten ausgesprochenes“ oder „eher hohes“ Vertrauen zum Apotheker, dicht gefolgt von den Ärzten mit 68 Prozent (https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/ daz-az/2019/az-23-2019/am-meisten-vertrauen-zum-apotheker). Aber schon 2000 galt, dass viele Patienten den Eindruck hatten, von ihren Ärzten nicht mehr optimal beraten zu werden (https:/lwww.heise.de/newsticker/meldung/ Hintergrund-Medizinische-lnfos-im-lnternet-22423.html). Hier ist ein breites Feld für Verbesserungen, auch für die Politik. Pro zehn Minuten erhält z.B. der Hausarzt z.Zt. für ein Patientengespräch 9,89 Euro, jedoch im Quartal auf 50 Prozent der Behandelten begrenzt. Patienten bzw. ihre Angehörigen suchen deshalb im Internet. Bis heute fehlen dort jedoch allgemein akzeptierte Standards zur Bewertung und Kennzeichnung der Qualität der Informationen. Jeder, der mit dem Web Erfahrungen hat, weiß, wie mühsam es ist, sich dort zu einem medizinischen Problem fundiert zu informieren. Die (meistgenutzte) Suchmaschine Google liefert z.B. pro Krankheit im Mittel 50.000 Fundstellen. Doch welche ist die „richtige“?

Besonders in Corona-Zeiten „boomen“ einerseits die „kontaktlosen“ Kommunikationsformen (Ferndiagnose, Versandapotheke), andererseits lernt man gerade dann ärztliche Empathie (Versorgung Schwerstkranker) und standortnahe Arzneimittelversorgung (z. B. Zubereitung von Desinfektionsmitteln) schätzen. Was ist daraus zu lernen?

  1.  In Weiterverfolgung des damaligen Ansatzes sollte ein Projekt zur Bestandsaufnahme des Wissens von Verbrauchern um die Probleme der medizinischen Information im Internet aufgelegt werden.
  2. In der Politik muss verstärkt dafür geworben werden, die Risikokompetenz von Konsumenten zu erhöhen und den Umgang mit entsprechenden Internetinformationen durch qualitätsgesicherte Angebote zu verbessern. Gesundheitserziehung in der Schule muss ein Pflichtfach werden (https://www.bildungsserver.de/Gesundheitserziehung-704-de.html).

Trotz allem: Wer akute Beschwerden hat, sollte, trotz Internetrecherche und -information, lieber gleich zum Arzt/zur Ärztin gehen oder sich, im Falle der Selbstmedikation, an den/die Apotheker(in) seines Vertrauens wenden.

 

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Univ.-Prof. Dr. Harald G. Schweim, Köln

 

Forschungsprojekt KFN: Risikokompetenz fördern

Das Thema Risikokompetenz betrifft alle Facetten der Medizin und damit auch den Arzneimittelmarkt. Hier haben sich in den letzten Jahrzehnten die Bedürfnisse und das Verhalten von Patienten und Verbrauchern grundlegend verändert. Vor allem durch die breite Nutzung des Internets wollen viele Menschen eigenständig darüber entscheiden, ob und welche Gesundheitsprodukte sie verwenden. So ist der Umfang von Selbstbehandlung und Selbstmedikation seit den 1990er-Jahren deutlich gestiegen. Zu dieser Entwicklung haben auch mehrere Gesundheitsreformen beigetragen. Mit der Entscheidung, 2004 mit dem GKV-Modernisierungsgesetz nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel aus der Erstattungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) zu nehmen, nahm die Selbstmedikation fast sprunghaft zu. Oftmals hinterfragen die Menschen ihre Eigendiagnose jedoch nicht und sind sich eines möglichen Risikos nicht bewusst. Auf der anderen Seite ist Sicherheitsorientierung in unserer Kultur tief verwurzelt, wie auch die jetzige Pandemie deutlich macht. Ist hier ein aus Vorsicht resultierendes Verhalten sinnvoll und wünschenswert, kann eine zu ausgeprägte Risikoaversion in anderen Situationen auch dazu führen, dass Entscheidungen hinausgezögert oder ganz vermeiden werden.

Um die Risikokompetenz von Laien wie Fachleuten zu fördern, hat das Komitee Forschung Naturmedizin e.V. (KFN) 2014 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit dem Thema „Stärkung der Risikokompetenz von Patienten“ beschäftigt. Die bisherigen Ergebnisse wurden in einer umfangreichen Publikation deutsch und englisch in dem Online-Journal „GMS German Medical Science“ veröffentlicht. Dabei wird auch festgestellt, dass die Qualität der im Internet verfügbaren Gesundheitsinformationen noch unbefriedigend ist und zu wenig evidenzbasierte Empfehlungen für Laien zur Verfügung stehen. Das Expertenteam betont zudem, dass zur Stärkung der Risikokompetenz von Patienten und Verbrauchern auch Medienkompetenz gehört, um sich im Dickicht des Internets zurechtzufinden, und plädiert für besser verständliche Informationen.

 

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Die Risikokompetenz von Patienten zu unterstützen, ist in der Apotheke ein tägliches Thema und stellt hohe Ansprüche an das beratende Personal.

Bildnachweis: AdobeStock_65173639_goodluz

 

Ariadnefaden im Arzneimittelmarkt

Bei Arzneimitteln werden Nutzen und Risiken durch die Packungsbeilage bzw. Gebrauchsinformation vermittelt. Sie gibt Auskunft über die richtige Anwendung des Medikaments, aber auch über Neben- und Wechselwirkungen. Studien zeigen, dass sich Patienten nur etwa ein Viertel der Informationen merken, die sie vom behandelnden Arzt oder in der Apotheke erhalten. Umso wichtiger ist es, dass die dem Arzneimittel mitgelieferte Gebrauchsinformation diese Lücken schließt. Die Packungsbeilage eines apothekenpflichtigen Arzneimittels enthält aus arzneimittel- und haftungsrechtlichen Gründen jedoch eine Fülle von Informationen, die dem Patienten einen souveränen Umgang mit dem Medikament eher erschweren als vereinfachen. Eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK hat gezeigt, dass sich nahezu jeder dritte Patient durch die Packungsbeilage verunsichert fühlt. Im schlimmsten Fall wächst das Misstrauen gegenüber dem Arzneimittel, und es wird gar nicht oder falsch angewendet.

Das Problem ist nicht neu. In den letzten Jahren wurden die Packungsbeilagen auch kontinuierlich verbessert und klarer strukturiert. Am Ziel, die Packungsbeilagen wirklich allgemeinverständlich abzufassen, wird jedoch noch gearbeitet. Hier besteht viel Luft nach oben, und so ist es gut, wenn Arzt und/oder Apotheker das für den jeweiligen Patienten Wesentliche der Packungsbeilage zusammenfassen und erläutern. Wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden, ist eine Schlüsselkompetenz, sowohl bei digitalen wie gedruckten oder auch mündlichen Gesundheitsinformationen – nicht einfach für Patienten, die jedoch zunehmend selbst Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen wollen.

 

Der mündige Patient

Lange war die Medizin von einem paternalistischen Bild bestimmt. Dazu gehörte es auch, dem Patienten einen ungünstigen Befund zu verschweigen. Diese Grundhaltung hat die Medizin noch bis ins 20. Jahrhundert geprägt. Erst nach dem 2. Weltkrieg bestimmte eine zunehmende Individualisierung die westlichen Gesellschaften. In den USA trug noch das besondere Rechtssystem dazu bei, dass 1957 die Doktrin des „informierten Konsensus“ verfasst wurde. Patienten sollten von nun an ein Recht darauf haben, über Vor- und Nachteile einer ärztlichen Behandlung sowie über therapeutische Alternativen aufgeklärt zu werden. Dieses Leitbild des informierenden Arztes und eines informierten Patienten ist auch in Deutschland in der Berufsverordnung deutscher Ärzte festgehalten. Die Patientenrechte zur Aufklärung über Nutzen und Risiken einer Maßnahme wurden noch gestärkt durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten aus dem Jahr 2013.

Dieser hohe Anspruch an Transparenz und Mündigkeit setzt jedoch eine hohe Risikokompetenz bei Fachleuten und Laien voraus. Um den steigenden Herausforderungen eines komplexen Gesundheitswesens Rechnung zu tragen, sind in den letzten Jahren die Themen „Gesundheitskompetenz“ und als deren Teildisziplin „Risikokompetenz“ zunehmend auch in den Fokus von Gesundheitsforen für Patienten und Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte und Apotheker gerückt.

 

Hannelore Gießen

PK 5/2020

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