Klinische Evidenz - Aus mehreren Quellen schöpfen

Mit einer strengen Auslegung der Kriterien einer Evidenzbasierten Medizin (EbM) stößt man mitunter an Grenzen, sei es, weil nicht genügend hochkarätige Daten zur Verfügung stehen, sei es, weil sie die tatsächliche Situation der Patienten unzureichend abbilden. So werden in den letzten Jahren neue Ansätze verfolgt, um weitere Wege in der Gewinnung von Evidenz zu entwickeln.

Die Interpretation der EbM-Definition nach Sackett kann in mehrerer Hinsicht eine Gratwanderung darstellen. So gibt es Sachverhalte, die seit langem vollständig geklärt sind, für die aber im Sinne der EbM keine ausreichenden Nachweise vorliegen. Als Beispiel wird oft die so genannte Vipeholm-Studie von 1954 genannt, die erste und einzige Untersuchung, die zeigte, dass Zucker Karies hervorruft. Das Ergebnis ist so eindeutig, dass keine weiteren Studien erfolgten. Dem EbM-Level Ia entspricht die Studie jedoch nicht. Oftmals stellt auch die Übertragung der Studienergebnisse auf die einzelne Behandlungssituation eine Herausforderung dar. Je mehr Daten in großen Untersuchungen zusammengezogen werden, desto schwieriger wird es, den Durchschnittspatienten der Studie mit einem speziellen Patienten im realen Leben zu vergleichen. So werden ergänzende Informationen gesucht, um eine Therapieentscheidung auf eine breitere Basis zu stellen.

 

RCT oder Beobachtungsstudie?

Die evidenzbasierte Medizin betont die Bedeutung randomisiert kontrollierter Studien (RCTs), die Schlüsse auf Kausalzusammenhänge erlauben. In Beobachtungsstudien und anderen Forschungsdesigns hingegen kann man oft nur von Korrelationen sprechen, manchmal auch von gesicherten Zusammenhängen. Bei Beobachtungsstudien werden keine Experimente durchgeführt, sondern zwei Patientengruppen beobachtet, die beispielsweise unterschiedliche Medikamente erhalten. Wenig hilfreich ist es, RCTs und Beobachtungsstudien gegeneinander in Stellung zu bringen. Beide haben unterschiedliche Ziele und bilden unterschiedliche Hintergründe ab: Für die Wirksamkeit von Interventionen sind RCTs die Studienform, die am resistentest2en gegen Verzerrungen ist. Es gibt jedoch eine Reihe von epidemiologischen Fragestellungen, für die Beobachtungsstudien das Instrument der Wahl sind, beispielsweise für die Untersuchung von schädlichen Auswirkungen von Schadstoffen. Manchmal sind aber Beobachtungsstudien auch der einzige Weg, um Sachverhalte überhaupt oder mit ausreichend externer Validität zu untersuchen. Bei kleinen Effekten können kausale Zusammenhänge oft lange ungeklärt bleiben. In der Medizin bilden Beobachtungsstudien zudem den Verordnungsalltag besser ab und stellen oft eine gute Ergänzung zu klinischen Studien dar. Eine Beschränkung auf RCTs reicht auch nicht aus, um unerwünschte Arzneimittelwirkungen aufzuzeigen. Mitunter werden seltenere Nebenwirkungen erst durch Spontanberichte erkannt und nicht bereits in den Zulassungsstudien aufgedeckt. So werden gerade in den letzten Jahren neue Ansätze verfolgt, um neue Wege in der Gewinnung von Evidenz in der Arzneimittelsicherheit zu entwickeln. Wie zusätzlich Hinweise aus präklinischen und epidemiologischen Studien sowie aus der Grundlagenforschung mit in die Beurteilung einbezogen werden können, untersuchen einige Forschergruppen beispielsweise mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung: So verknüpft ein deutsch-italienisches Team aus Mathematikern und Philosophen die unterschiedlichen Informationen in einem so genannten Bayes’schen Netz. Dabei werden die verschiedenen Beobachtungen einer Wahrscheinlichkeitsverteilung zugeordnet und logisch verknüpft. Diese Methode eröffnet die besondere Chance, alle verfügbaren Informationen zusammenzufügen.

 

Pflanzliche Arzneimittel auf dem Prüfstand

Drei Wege sind für die Zulassung möglich:

Vollständige Zulassung

  • Pflanzliche Arzneimittel werden in den gleichen Zulassungsverfahren bewertet wie chemisch-definierte Arzneimittel

Well-established Use

  • Voraussetzung ist eine mindestens zehnjährige medizinische Verwendung als Arzneimittel in einem Land der Europäischen Union (EU) sowie mindestens einer guten klinischen Studie.

Traditional Use

  • Zudem besteht die Möglichkeit, traditionelle pflanzliche Arzneimittel in einem vereinfachten Verfahren zu registrieren. Die Nachweise zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit stützen sich auf eine mindestens 30-jährige Tradition der medizinischen Verwendung, davon mindestens 15 Jahre in einem Land der EU.

 

Mehr Daten aus dem echten Leben

In den Fokus der Arzneimittelentwicklung und -zulassung sind auch bereits existierende Daten aus dem Versorgungsalltag gerückt, so genannte „Real-World-Daten“. In den USA wurde durch eine Gesetzesänderung vor gut einem Jahr bereits die Grundlage dafür gelegt, diese als Real-World-Evidenz bezeichneten Daten für die Wirkstoffentwicklung und für die Zulassung zu nutzen. Im ersten Schritt könnten diese Daten für die Zulassung neuer Darreichungsformen oder neuer Indikationen eingesetzt werden. Zu den Quellen aus der realen Welt zählen u.a. elektronische Patientenakten, digitale Anwendungen, Beobachtungsstudien oder Verordnungsdaten. Auf dem Gebiet der Pharmakovigilanz haben Daten aus dem Versorgungsalltag der realen Welt auch in Europa bereits ihren Platz. Dringend gebraucht werden sie nach Meinung von Experten aber auch im Bereich der klinischen Bewertung von Arzneimitteln.

 

Evidenz für Phytopharmaka

Für Phytopharmaka gelten dieselben Qualitätskriterien wie für chemisch synthetische Wirkstoffe. Das heißt, auch hier muss die Wirksamkeit anhand von qualitativ hochwertigen Studien belegt werden. Phytotherapeutika bilden jedoch eine besondere Klasse von Arzneimitteln, da sie von Natur aus Gemische mit vielen aktiven Inhaltsstoffen sind. Zudem wirken Phytopharmaka meist nicht allein auf einen bestimmten Rezeptor oder hemmen ein spezifisches Enzym, sondern entfalten eine breite Wirkung. Solche multiplen, aber kleinen Effekte entziehen sich oftmals RCTs, was aber nicht heißt, dass sie deswegen nicht oder weniger wirksam wären. Lange Zeit fußte die Phytotherapie auf einer Erfahrungsmedizin und fand in Leitlinien keinerlei Berücksichtigung. Inzwischen haben einzelne Phytopharmaka jedoch Aufnahme in Leitlinien gefunden. So listet, beispielsweise die S2-Leitlinie „Behandlung des benignen Prostatasyndroms (BPS)“ unter der medikamentösen Therapie gleich mehrere Phytopharmaka. Erwähnt werden dort Extrakte aus Sägezahnpalmenfrüchten, Brennnesselwurzeln, Kürbissamen und Roggenpollen. Erste Voraussetzung für die Wirksamkeit ist die pharmazeutische Qualität, die bei den im Handel befindlichen Produkten sehr unterschiedlich ist. Nur wenn eine standardisierte hohe Qualität eines Phytotherapeutikums sichergestellt ist, kann auch die klinische Wirksamkeit gewährleistet werden. Positive Erfahrung mit rationaler Phytotherapie haben sich sowohl bei klinischen Studien als auch in der langjährigen Anwendung in der Praxis gezeigt. Da Phytopharmaka Vielstoffgemische sind, deren Zusammensetzung in Abhängigkeit vom Extraktionsverfahren erheblich differiert, sind die Ergebnisse einer gegebenen Untersuchung zudem auch dann nicht auf andere Zubereitungen übertragbar, wenn es sich um dieselbe Pflanze handelt. Das zeigt aber auch, wie aufwändig ein Evidenznachweis für Phytopharmaka ist, denn er muss immer spezifisch für das jeweilige Arzneimittel erhoben werden. Allerdings ist die klinische Evidenz zahlreicher pflanzlicher Arzneimittel, die auf dem Markt sind, extrem unterschiedlich und zum Teil unbefriedigend. Einzelne Extrakte haben mit erheblichem Aufwand eine breite Evidenzbasis erarbeitet. Entsprechend dem Prinzip „Extrakt ist nicht Extrakt“ können anders hergestellte Extrakte sich nicht auf diese Evidenz beziehen, ohne Daten aus eigenen klinischen Studien vorzuweisen. Eine Ausnahme bilden Extrakte, die eine identische Zusammensetzung wie der Referenzextrakt nachgewiesen haben. Der speziellen Situation der Phytopharmaka tragen auch die differenzierten Zulassungsverfahren durch die Europäische Medizinagentur (EMA) Rechnung Grundlage ist die Richtlinie 2004/24/EG. Durch diese Regelung ist der Markt in Europa deutlich transparenter geworden.

 

Hannelore Gießen

PK 1/2020

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