Die jahrzehntelange Suche nach dem schlaffördernden Wirkprinzip der Baldrianwurzel verzeichnete einen weiteren Erfolg. Bei der Suche nach neuen Inhaltsstoffen im Baldrianextrakt wurde in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Christa Müller vom Institut für Pharmazeutische Chemie der Universität Bonn ein hydrophiles Lignan entdeckt, das an den Adenosin-1-Rezeptor des Gehirns bindet. Dieser Rezeptor gilt als das wichtigste Element der Steuerung des Wach-Schlaf-Rhythmus. Auch das dem Adenosin verwandte Koffein bindet an diesen Rezeptor, allerdings blockierend und wirkt daher schlafverhindernd.
Methodik und Ergebnisse
Aus einem 45prozentigem Methanol-Wasser Extrakt von Baldrianwurzeln wurden acht Lignane isoliert, deren Struktur mit Hilfe heute gängiger Analyse-Methoden (MS, H-NMR, C-13-NMR) aufgeklärt werden konnte. Neben sechs bereits bekannten Verbindungen (u.a. Hydroxypinoresinol) wurden zwei neue Naturstoffe der Lignangruppe entdeckt: Glucosyl-Deoxysaccharosyl-Olivil und Berchemol-Glucosid.
Von allen acht Verbindungen wurden Radioligand-Bindungsstudien an die Adenosin-Rezeptoren A-1 und A-2, an den Serotonin-Rezeptor (5-HT-1A), sowie an Benzodiazepin- und GABA-Rezeptoren durchgeführt. Die Bestimmung der in vitro-Affinität zu den Rezeptoren erfolgte durch Verdrängung bekannter spezifischer Agonisten und Antagonisten vom Rezeptor bei steigender Konzentration der einzelnen test2substanzen.
Für keine der acht untersuchten Substanzen konnten in dieser Versuchsanordnung auffällige Affinitäten zum 5- HT-1A, GABA- oder Benzodiazepin-Rezeptor nachgewiesen werden.
Vier Lignane zeigten bei sehr hoher Konzentration eine schwache Affinität zu den Adenosinrezeptoren. Nur das Olivilderivat erwies sich als hochsignifikant affin zum A-1 Adenosinrezeptor (vier- bis zehnmal stärker als die anderen Lignane), weniger stark zum A-2-Rezeptor.
Die Olivilverbindung wurde daher in verschiedenen Versuchsanordnungen genauer charakterisiert. An corticalen Rattenhirnmembranpräparaten wurde die Bindungsstärke im Vergleich zu bekannten Agonisten (u.a. Cyclopentyladenosin CPA und HCCPA) und den Antagonisten Koffein und Dipropycyclopentyxanthin (DPCPX) gemessen. Die Bindungsstärke des Olivilderivats ist etwa halb so stark wie die des Cyclopentyladenosins, aber um ein vielfaches stärker als von Koffein und DPCPX, d.h. Koffein und DPCPX wurden vom A-1-Rezeptor verdrängt.
Ähnliche Ergebnisse wurden an gentechnisch produzierten menschlichen A-1-Adenosin-Rezeptoren erzielt.
Diskussion
Das Purin Adenosin (ein Adenin-Ribofuranosid) induziert Schlaf, indem es an spezifische Rezeptoren im Gehirn – die Adenosinrezeptoren vom Typ A-1 – bindet und dort durch Anregung (agonistisch) eine müde machende Kettenreaktion auslöst. (Weitere Adenosin-Rezeptor-Subtypen befinden sich in peripheren Nerven und am Herzen und bewirken dort andere Reaktionen. Daher kann Adenosin nicht als Schlafmittel eingesetzt werden).
Die verwandte Purinverbindung Koffein bindet blockierend (antagonistisch) an den Adenosinrezeptor und verhindert Müdigkeit durch zentrale Stimulation.
Das Olivil-Derivat ist bislang der einzige bekannte Adenosin-Rezeptor-Agonist, der keine Adenosin-Struktur besitzt und spezifisch am zentralen A-1-Rezeptor aktivierend bindet. Sein Zentralmolekül weist zwar keine Ähnlichkeit mit dem Adenosinmolekül auf, aber in seiner Zuckerseitenkette können gewisse räumliche Ähnlichkeiten mit der Zuckerkette des Adenosins festgestellt werden. Die anderen Baldrianlignane besitzen diese Zuckerseitenkette nicht.
Fazit: Die schlaffördernde Wirkung eines wässrig-alkoholischen Baldrianextraktes hat durch die Ergebnisse der Experimente eine plausible Erklärung gefunden.
(Quelle: B. Schumacher, S. Scholle, J. Hölzl, N. Khudeir, S. Hess, C. Müller: Lignans isolated from Valerian: Identification and characterization of a new Olivil Derivative with partial agonistic activity at A-1 Adenosine rezeptors. J of Natural Products 2002; 65:1479-1485)